Freitag, 7. Mai 2010

Gehobene Routine statt Starauflauf


Wer den lettischen Dirigenten Andris Nelsons bei einer der von ihm in den letzten Jahren in Berlin dirigierten Aufführungen erlebt hat, weiß zu welchen Spitzenleistungen er ein Orchester auch im Repertoire-Alltag führen kann. (Besonders in Erinnerung bleibt ein großartiger Eugen Onegin an der Deutschen Oper.) Bei seinem Debüt an der Wiener Staatsoper mit Bizets Carmen war das jetzt nicht anders. Leidenschaftlich und intelligent schlägt er Funken aus der Partitur, wo man das kaum für möglich gehalten hatte. Das Label Musikalische Neueinstudierung wird eingelöst. Das Orchesterfest geht aber mitunter auf Kosten der Sänger, die durch so viel Fulminanz und Klangpracht in Bedrängnis geraten. Doch das passiert nicht oft, Nadia Krasteva überzeugt als Carmen mit einem konsistenten Rollenporträt, das - wie ihre Stimme - sicher Geschmackssache ist, aber wirkungsvoll. Darstellerische Wandlungsfähigkeit geht auch Massimo Giordano als Don José ab, er macht das aber durch eine sehr virtuose musikalische Gestaltung seiner Rolle wett. Als Escamillo überzeut Ildebrando d'Arcangelo zwar nicht restlos, aber er findet sich noch am besten in den Resten der Inszenierung zurecht. Die Rolle der Micaela gehört zu den größten Absahner-Nebenrollen der Opernliteratur. Das ist natürlich auch bei Anna Netrebko so, die hier einmal mehr ihre Klasse und ihr Format unter Beweis stellen kann. Mit traumwandlerischer Sicherheit in der Gestaltung, vorbildlicher Tongebung und berückend gefühlvollem Gesang wird auch dieser Auftritt zum bejubelten sängerischen Ereignis. Ewig wird sie diese Rolle nicht mehr im Repertoire halten, es mischen sich inzwischen viele dunkle Farben in ihre Stimme, sie wird sich wohl zukünftig verstärkt schwereren und dramatischen Partien zuwenden. An einen Endpunkt dürfte mit dieser Serie nun wirklich die Praxis gekommen sein, Uralt-Produktionen mit immer neuen Besetzungen im Repertoire zu erhalten. Franco Zefirellis naturalistische Kulissen erzeugen keinerlei Spannung oder Sogwirkung, die Mitwirkenden stehen und laufen mehr oder weniger herum, Chor und Statisterie erfüllen eher hilflos als präzise die Vorgaben. Die Geschichte wird ausschließlich durch das Engagement der Sänger verhandelt und da gibt es beträchtliche Unterschiede, Missverständnisse sind vorprogrammiert, der Schritt zur unfreiwilligen Komik nicht weit. Wie man auf die Idee kommen kann, eine solche Vorstellung live im Fernsehen zu zeigen ist äußerst fraglich. Wird sich im Opernhaus noch eine Erfahrung durch das Liveerlebnis einstellen, dürfte vor dem Bildschirm nur Ratlosigkeit über so viel Klischee und Routine ausbrechen. So ist Oper nicht und so war sie nie! Dass es in Carmen um ganz existenziellen Fragen von Leben, Liebe und Tod geht, dass ist so nicht zu vermitteln!

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